„…achtsam und respektvoll mit meinem Gegenüber umzugeben.“

© Finni Liening

Geschrieben, am 30. März 2015

Wiebke Schleser, Buchhändlerin im Florakiez, Mutter und Ehefrau im Interview zum Thema "Achtsamkeit".

Im Interview zum Thema Achtsamkeit Wiebke Schleser, Teilnehmerin im Netzwerk Florakiez, Inhaberin der Kinderbuchhandlung „Buchsegler“. Die Unternehmerin ist Mutter von zwei Söhnen (6 & 15 Jahre) und Ehefrau.

Du bist selbständig, was bedeutet das für Dich?
Wiebke Schleser. „Selbst und Ständig zu sein! Es bedeutet Druck, Verantwortung zu 100% und ist für mich ein Prozess: er ist auf der einen Seite gut, es macht Spaß und funktioniert für mich. Auf der anderen Seite gibt es die Erwartungshaltung von Familie, Kunden und der Bank.“

Du hast eine Familie, wie sehen die Deine Selbständigkeit?
Wiebke Schleser. „Das ist schwierig. Manchmal fühle ich mich da zerrissen. Die Frage für mich war und ist immer wieder: sind die Kinder trotz meiner Selbständigkeit glücklich? Reicht es, wenn die Mutter oder die Eltern mit ihrer Arbeit glücklich sind, obwohl wenig Zeit bleibt, häufig die Dinge doch anders laufen als geplant? Nein, sind sie nicht. Ich bin froh, wenn ich es zweimal die Woche zum gemeinsamen Abendbrot schaffe. Mein Mann ist auch selbständig. Jeder kämpft hier für sich und wir müssen für die Familie vieles aushandeln. Als Paar kommen wir da oft zu kurz: z.B. wegfahren, das passiert nicht mehr „zufällig“, wir müssen es lange im Voraus planen. Die Spontanität fehlt mir hier sehr.“

Was bedeutet im Kontext der Selbständigkeit, des Aushandelns in der Familie und für Dich persönlich der Begriff der Achtsamkeit?
Wiebke Schleser. „Sie ist mir immer wichtiger geworden je älter ich geworden bin. Es gibt eine Phase, da ist Achtsamkeit ein ziemlich leeres Wort, weil man alles aufsaugt um einen herum, weniger bei sich ist. (Das ist für mich eine Form der Achtsamkeit „drum herum“). Was mir wichtig ist – hat was mit mir zu tun, mit meiner Achtsamkeit, mit den Menschen, die was mit mir zu tun haben: meine Familie, dann meine Freunde und natürlich meine Kunden. Ich möchte gerne in einer Gemeinschaft wohnen und leben. Es bedeutet für mich, achtsam und respektvoll mit meinem Gegenüber umzugehen. Ich wünsche mir, sich auf Augenhöhe zu begegnen; auch nach Gesprächen oder Fragen die unbequem sind, miteinander im Gespräch zu bleiben, wenn man sich das nächste Mal wieder sieht.“

Wie kann Achtsamkeit im Kontext von Gewerbetreibenden funktionieren? Was tun die denn, wenn sie achtsam miteinander umgehen, obwohl sie unterschiedliche Produkte verkaufen?
Wiebke Schleser. „Man grüßt sich zumindest. Das ist wie, wenn Leute in deinen Laden kommen, man sagt Hallo und Auf Wiedersehen. Das tun aber viele gar nicht, es ist nicht selbstverständlich. Unter uns Geschäftsleuten gehört es für mich dazu, sich zu grüßen, oder auch mal zu fragen, wie es dem anderen geht. Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, offen miteinander zu sein soweit es möglich ist. Damit meine ich nicht, Geschäftsgeheimnisse preis zu geben, das geht natürlich nicht. Aber das man ein gewisses Fair Play miteinander spielt. Bei sich und seinen Geschäftsideen bleiben, den anderen „sein lassen“ können, auch wenn es bei mir vielleicht gerade nicht so gut läuft. In der Vielfalt machen wir den Kiez aus. Darüber hinaus sind es die inhabergeführten Läden, die Atmosphäre schaffen, Nähe und Kiezfeste und mehr organisieren – da müssen so viele Freigeister (Inhaber) unter einen Hut gebracht werden, das ist nicht immer leicht, aber Ziel.“

Ist es möglich das Achtsamkeit gegenüber anderen dann am besten funktionieren kann, wenn man es schafft vor allem sich selbst gegenüber achtsam zu sein?
Wiebke Schleser. „Ja! Wie kann Selbstachtsamkeit aussehen? Wiebke Schleser. Keine Selbstausbeutung! Das ist nicht leicht. Ich habe oft eine 50 bis 60 Stunden/Woche, mit allem was vor und nach Ladenöffnung getan werden muss. Da bedeutet Achtsamkeit mir selbst gegenüber, eine Tagesstruktur zu haben. Ich laufe mir z.B. „den Kopf frei“ und reflektiere für mich, was ich hier mache und tue, was im Laden passiert, was die Leute (Freunde, Familie, Bekannte) sich wünschen. Was macht das mit mir? Was kann ich da für mich tun? Und welche Informationen sind wichtig? Wie kann ich es umsetzen. Auch, wenn das, was ich wahrnehme nur Bruchteile eines Ganzen sind und sein können. Es bedeutet für mich – gesund zu bleiben, mental wie körperlich und auch dafür etwas zu tun. Offen zu sein für Interaktion mit anderen über das eigene Geschäft hinaus.“

Was bedeutet für Dich Achtsamkeit einer Gewerbetreibenden bezogen auf die Familie? Bezogen auch darauf, dass Deine Buchhandlung prämiert und über die Bezirksgrenzen hinaus bekannt ist?
Wiebke Schleser. „Ich wünsche mir, dass die Jungs trotz der wenigen gemeinsamen Zeit, das Gefühl haben – ein zu Hause zu haben, gesehen und geliebt zu werden.“

Lesen Deine Kinder gerne?
Wiebke Schleser. „Der Große liest so lala, immer in Schüben. Er liest einfach anders, als ich, nutzt die Vielfalt an Medien und holt sich von überall seine Informationen. Er liest Zeitung im Internet. Und der Kleine, das werden wir sehen. Er ist auf jeden Fall ein großartiger Zuhörer und lässt sich gerne vorlesen. Er lernt gerade lesen.“

Kommen wir nochmal zurück zur Achtsamkeit: Was braucht denn der Florakiez? Was brauchen die familiengeführten Läden hier im Kiez in Bezug auf Achtsamkeit?
Wiebke Schleser. „Das ist echt schwierig. Für mich wird klar, dass z.B. die Workshops im LSK-Projekt, die wir wollten und gut finden, wir können sie gar nicht so nutzen wie geplant. Es sind einfach noch wieder zusätzliche Termine. Daher kommen auch nicht alle zu allen Terminen, obwohl es so wichtig wäre, regelmäßig rauszukommen und in den Austausch mit anderen Gewerbetreibenden zu gehen. Einen einfacheren Umgang mit Behörden fände ich hilfreich.“

Das finde ich interessant: Ich habe nach dem Kiez gefragt und Du landest bei Dir! Das ist wichtig. Die Leute mit ihren Läden sind vielleicht doch mehr darauf angewiesen, bei sich zu landen, zu bleiben und zu sein, weil sie die Verantwortung für sich selbst tragen müssen. Sie müssen Entscheidungen treffen. Wäre es vielleicht eine gute Sache, die Leute in den Läden erstmal dazu aufzufordern, nur auf sich zu achten, ehe sie auf andere achten?

Wiebke Schleser. „Genau, da wollte ich hin! Das war nur die Einleitung. D.h., dass tue ich für mich und damit geht es mir gut. Dann kann ich mit den anderen, den auch sein lassen. Wenn es mir nicht gut geht, weil z.B. der nächste Buchladen in der Gegend aufmacht, dann kann ich den anderen
vielleicht auch nicht gut sein lassen. Weil das Gefühl da ist, ich muss „den Kuchen“ mit noch mehr Leuten teilen.“

Das ist so wie „Leben und leben lassen?“
Wiebke Schleser. „Ja!“

Der Kiez boomt. Es kommen viele Menschen neu in den Kiez. Neue Familien. Kaufen die alle hier ein? Sind das „Kiezkäufer“?
Wiebke Schleser. „Ich weiß, dass viele erst einmal „schön wohnen wollen“. Ich weiß nicht, ob sie alle hier einkaufen, es wollen und werden. Wir würden uns freuen, denn nur so bleibt es so vielfältig.“

Vielleicht müssen die Immobilienfirmen, die neue Wohnungen vermieten und verkaufen die Gewerbetreibenden mit unterstützen, damit das schöne und reichhaltige Umfeld der neuen Wohnungen auch erhalten bleibt?
Wiebke Schleser. „Das stimmt, aber ich glaube, so funktioniert das nicht. Ich habe z.B. eine ganz tolle Vermieterin. Wir haben ein gutes Verhältnis miteinander. Ich glaube aber nicht, dass ich erwarten kann, dass jemand der neue Wohnungen verkauft mich unterstützen würde, damit der Buchsegler in der Nachbarschaft auch weiterhin existiert. Da habe ich keinen Anspruch drauf.“

Einen Anspruch hast Du nicht, aber im Rahmen von Achtsamkeit wäre es nicht gut?
Wiebke Schleser. „Ja, klar. Doch das hätte wohl parallel zum Bau der vielen Häuser und Wohnungen wachsen müssen. Im Nachgang kann man so etwas kaum installieren. Zum anderen sind die meisten Läden in der Florastraße ja schon vorher dagewesene und haben den Kiez ansprechender gemacht. Aber jeder soll da einkaufen gehen, wo er sich wohlfühlt. Das ist meins. Und das meine ich auch so.“

Wirst Du in 5 Jahren hier noch stehen?
Wiebke Schleser. „Gute Frage. Ich habe Lust darauf. Die Frage ist, wie sich der Kiez weiter entwickeln wird. Mein Laden ist ein Ort. Es wäre schade, wenn es diesen irgendwann nicht mehr gäbe. Zur Eröffnung habe ich gesagt, ich brauche 3 bis 5 Jahre, dann kann man darüber reden, ob es weiter gehen kann. Jetzt sind 5 Jahre rum. Ich will weitermachen und mich nicht ausruhen. Wir werden das
10-jährige feiern!“

Vielen Dank für dieses Interview und Dir alles Gute!

Das Interview führte Andreas Gerts,
Netzwerk Florakiez, _wortraum_